Von Chile nach Schwerin auf der Suche nach einer verlorenen Kindheit
Am 16. November 1939 erreicht das italienische Passagierschiff „Conte Grande“nach einem Monat Fahrt die Hafenstadt Valparaiso in Chile. Die beiden Türme am Hafen sind für den knapp vierjährigen Hans Kychenthal und seine Eltern das Eintrittstor in eine neue Welt. Vor den Nazis ist die jüdische Kaufmannsfamilie mit einem der letzten Schiffe aus Europa geflohen. Nach 75 Jahren hat sich Hans Kychenthal jetzt auf den Weg nach Schwerin gemacht. Der Film „Unsere Geschichte – Kychenthals Rückkehr“ von Thilo Tautz und Matthias Baerens wurde im November 2014 erstmals im NDR-Fernsehen gezeigt. Matthias Baerens schildert die Entstehungsgeschichte:
„Ich kenne diese Sicht! ...
... Nicht, dass ich sie erkannt habe; aber irgendwie kommt sie mir nicht fremd vor.“ Hans Kychenthal schaut aus dem Fenster des Kaufhauses seiner Eltern am Schweriner Marktplatz. Es ist kalt im Januar 2014. Unten auf dem Markt ist es fast leer. Ein Kamerateam filmt das Geschehen am Fenster in der obersten Etage. Nach 75 Jahren ist Hans Kychenthal aus Chile nach Schwerin gekommen. Er ist auf der Suche nach seiner verlorenen Kindheit, nach den Spuren seiner Familie. „Ich mache das für meine Familie, für meine Kinder und meine Enkel“, hatte mir Hans zuvor gesagt. Er möchte das zu Ende bringen, „auch wenn das alte Wunden wieder aufreißt.“ Dass ich hier mit ihm in Schwerin einen NDR-Film über seine Geschichte drehe, hätte ich nicht gedacht, als ich vor 20 Jahren erstmals mit dem Schicksal der jüdischen Familie Kychenthal zu tun hatte.
Auf der dicksten Akte stand "Kychenthal"
Ich war damals Student an der FU Berlin und schrieb an einer Hausarbeit zum Thema „Arisierungen in Schwerin“. Darin sollte es um Enteignungen jüdischer Unternehmen während der Zeit des Nationalsozialismus in meiner Heimatstadt Schwerin gehen. Im Stadtarchiv fragte ich nach eventuell vorhandenen Dokumenten zum Thema. Auf der dicksten Akte stand „Kychenthal“. Ich entschied mich als effizient handelnder Student für diese Akte. Damit fing alles an. Mein Geschichtsunterricht in der DDR kannte Juden eigentlich nur als Opfer des Naziregimes. Es war für mich als Kind eine unvorstellbare Zahl: sechs Millionen ermordete Juden. Und zusätzlich waren sie für mich alle absolut anonyme Opfer. Nie hatte ich von Einzelschicksalen aus meiner Stadt gehört.
Millionen Opfer ohne Gesicht
Den einzig wahren Widerstand gegen Hitler und den Faschismus habe die KPD angeführt, erklärte meine DDR-Geschichtslehrerin immer wieder. Ernst Thälmann sei dafür gestorben, wie auch viele sowjetische Soldaten. Genau deswegen mussten wir alle damals jedes Jahr im Mai Blumen von zu Hause mitbringen: zur Ehrung des Russenpanzers in Schelfwerder. Da stand ich dann als kleiner Junge mit meiner Schulklasse am Ortsausgang von Schwerin. Wir warteten alle sehnsüchtig darauf, die Blumen endlich loszuwerden. Denn spannender war für uns der folgende traditionelle Ausflug in den Wald. Und trotzdem wurde dieser Panzer für mich als Kind – allein durch seine Existenz an dieser Stelle – zum sichtbaren Beweis für die Befreiung Schwerins durch die ruhmreiche Sowjetarmee. Das Mahnmal wurde dann nach der Wende schnell entfernt und schließlich in Bad Oldesloe verschrottet, denn die Amerikaner hatten Schwerin befreit. Etwa zwei Jahre zuvor, im Jahr 1988, hatten DDR-Oppositionelle – unter Anspielung auf Gorbatschows Perestroika – am Panzer über Nacht ein Transparent befestigt: „Befreit uns noch mal!“
Eine Akte wie ein Geschenk
Und ich saß jetzt hier im Stadtarchiv und die Nazi-Geschichte meiner Stadt bekam für mich erstmals persönliche Namen. „Kychenthal“ stand auf dem Aktendeckel, eine Schleife umhüllte die bläuliche Mappe, fast wie ein Geschenk. Sie war rückblickend ein Geschenk für mich, nicht nur journalistisch, sondern auch persönlich.
Ich habe dann meine Hausarbeit auf Basis der Aktenlage in Schweriner Archiven geschrieben und diese rund 40 Seiten 1996 nach Chile geschickt. Bei den Recherchen hatte ich auch herausbekommen, dass die Familie Kychenthal einen Rückführungsantrag für ihr ehemaliges Kaufhaus am Schweriner Markt gestellt hatte. Könnte der Familie vielleicht hilfreich sein, dachte ich. Hans Kychenthal bedankte sich sofort schriftlich und ließ die Arbeit für seine Familie ins Spanische übersetzen. So entstand ein erster Kontakt.
Ein Jahr später hatte ich mich dann entschieden, das Thema „Arisierungen in Schwerin“ zum Schwerpunkt meiner Abschlussarbeit an der Uni zu machen. Ich recherchierte zunächst in deutschen Archiven weitere Fälle in Schwerin, beschaffte mir sogar Akten aus einem Archiv in Israel. Dann rief ich noch mal bei Hans in Chile an. Ob er denn in Chile noch weitere Dokumente aus Deutschland habe? Er sagte ja, es gäbe einige Akten.
Mehrere Regalmeter Dokumente
Ich fragte spontan, ob ich mir die anschauen dürfte. Hans sagte ja, ich sei willkommen und könne das Gästezimmer in seiner Wohnung nutzen. Kann meiner Diplomarbeit bestimmt nicht schaden, dachte ich mir, wenn ich noch einige zusätzliche Dokumente aus Chile direkt von der Familie bekomme. Vielleicht gibt es ja sogar ein oder zwei Fotos… Dass ich Hans damals 1998 auf seinem Mobiltelefon während einer Dienstreise mit viel Glück zufällig in einem Restaurant in Hongkong erreicht habe, das hat er mir erst dieses Jahr erzählt.
Ich buchte sofort einen Flug. Zwei Wochen nach meinem Anruf landete ich in Santiago de Chile. Hans und seine Frau Ursula holten mich vom Flughafen ab. In seiner Wohnung machte Hans einen Wandschrank auf. „Ich kann das nicht lesen“, sagte er in etwas ungeübtem Deutsch. „Das ist fast alles in Deutsch geschrieben und von meinen Eltern.“ Vor mir standen mehrere Regalmeter Akten: Geschäftsakten des Kaufhauses, offizielle Dokumente von Nazibehörden, Fotoalben, Tagebücher – rund 10 000 Seiten Papier.
Ich war geschockt. Was tun? Vielleicht Plan A: nur einen dieser Aktenordner durchsehen und nur ein paar Dokumente für die Uni zitieren? Kein Professor würde das mitbekommen… Oder Plan B: alles durchschauen, Abgabetermin an der Uni verlängern usw.
Ich habe alles durchgeschaut – jedenfalls die Akten bis 1945. Geschätzt waren das rund 6 000 Seiten. Meinen Rückflug musste ich umbuchen, denn ich war nach zwei Wochen immer noch nicht durch.
Ich tauchte in diese Akten ein
Insbesondere die privaten Briefe von Annemarie, der Mutter von Hans, ließen mich in die Geschichte Schwerins im Jahr 1939 eintauchen. Sie hatte fast alle ihre Briefe mit Schreibmaschine geschrieben. Und ich hatte beides vor Augen, ihre knisternden und hauchdünnen Durchschlagsbögen und die originalen Antwortschreiben ihrer Freunde und Familienmitglieder. Es war unglaublich, das Geschehen war so nah. Ich tauchte in diese Akten ein, blickte im Jahr 1998 aus Hans Arbeitszimmer auf die Anden und war gleichzeitig im Schwerin von 1939. Das war nicht mehr anonym. Was ist schon ein trockenes Behördendokument aus einem deutschen Archiv gegen einen Brief von Annemarie an die beste Freundin, direkt nach der Pogromnacht? Welche tiefe Enttäuschung rinnt aus einem Brief nach der ersten gescheiterten Flucht der Familie 1939? Geschichte besteht aus menschlichen Geschichten.
Eine andere Sicht auf Chile 1973
Bei meinem Besuch in Chile 1998 wurde dann auch noch mein etwas DDR-geprägtes Weltbild durcheinander gebracht. Hans erzählte mir seine Geschichte über die Zeit von Allende und den Pinochet-Putsch in Chile. Hans Vater hatte seit der Ankunft in Chile 1939 mühsam eine ansehnliche eigene Werbegeschenke- Firma aufgebaut, bis der sozialistische Präsident Allende 1970 an die Macht kam. Zum zweiten Mal drohte
auf einmal die Enteignung und Vertreibung der Familie! Nicht weil sie Juden waren wie 1939 in Deutschland, sondern weil sie Anfang 1973 „Kapitalisten“ waren. Kychenthals hatten die Flucht nach Deutschland schon komplett vorbereitet, ein Teil des Gepäcks war schon in Europa. Dann kam der Putsch von Pinochet. „Das hat uns gerettet, ich bin ihm dankbar dafür“, sagte mir Hans. Mir blieb der Mund kurz offen. Kindheitsbilder aus der Schweriner Erich-Weinert-Schule purzelten durch meinen Kopf. Allende? War das nicht der „Gute“? Der mit der Milch für die Kinder? Und haben wir nicht als Jungpioniere beim Fahnenappell immer rufen müssen: „Freiheit für Luis Corvalan!“
Hans wollte in diesem Jahr 1998 nicht selbst die Akten sehen. Das schaffe er nicht. Aber es sei gut, wenn ich das mache.
Rückübertragung und Stolpersteine
Die Familie Kychenthal hat ihr Kaufhaus in Schwerin schließlich Ende der neunziger Jahre zurückbekommen. Eigentlich wollte Hans das Haus behalten, doch der Druck aus der Erbengemeinschaft war zu groß. Das Haus wurde wieder verkauft. Einige Jahre später wurden Stolpersteine für Kychenthals vor dem Haus verlegt. Ich blieb mit der Familie über die Jahre in Kontakt. Immer wieder dachte ich: da musst du noch mal hin und Hans und seine Familie noch mal treffen. Außerdem gab es ja noch nicht gesichtete Akten ab 1945…
Ein Vermächtnis an die Enkel
Im März 2013 war ich noch mal da. Ein Stück privat natürlich und dann auch für den NDR. Ich fand alle Akten so wie ich sie 1998 sortiert hatte, sogar meine alten Haftnotizen klebten noch. „Willkommen!“ sagte Hans, „du weißt ja wo das Gästezimmer ist. Alles ist so da, wie du es gelassen hast.“ Er hatte inzwischen begonnen in den Akten zu lesen und am Stammbaum der Familie zu arbeiten. Eine Woche haben wir im Oktober 2013 mit ihm in Chile gedreht, er hat sich dazu extra freigenommen in seiner Firma. „Für mich hat sich ein Zyklus geschlossen. Und das ist gut so“, sagte er uns dann beim letzten Interview im Januar 2014 in Schwerin.
Doch schon im Mai kam er zusammen mit seinen Enkeln erneut nach Schwerin. „Ich muss ihnen das hier zeigen, das ist meine Aufgabe“, sagte er. Beim Filmkunstfestival wurde der Film über ihn gezeigt. Die Schweriner Kinobesucher erlebten Kychenthals Rückkehr: auf der Leinwand und live.
(c) Matthias Baerens
veröffentlicht: Mecklenburgische Kirchenzeitung (16.11.2014, Seite 6)
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